Frühaufsteher
Schlaf. Schlaf ist schön. Schlaf entspannt. Schlaf bringt Erholung.
Wecker. Er klingelt. Klirrt viel eher, mit greller Stimme.
Vergrabe den Kopf unterm Kissen. Die Hand tastet nach dem Störenfried. Ein Schlag ins Leere, ein dumpfer Aufprall und es wird still. Leise kullern die Batterien über den Boden.
Ruhe. Endlich wieder Ruhe.
Schlafen. Nein, aufstehen!
Müde.
Einzeln schleppen sich meine Beine über die Matratze. Die Füße setzen sich auf den Boden. Erst der rechte, dann der linke. Der Rest des Körpers weigert sich noch. Murmelnd versuche ich ihn zu überzeugen den Beinen zu folgen. Das Kissen dämpft mein Gebrabbel.
Müde.
Jemand klaut mir das Kissen. Es war meine Hand. Sie zieht mich an der Matratze nach oben. Die Augen noch immer geschlossen. Der Kopf zu schwer, um ihn zu halten, häng auf meiner Brust. Grummelnd protestiere ich.
Müde.
Ich blinzle in die Dunkelheit. Schleppe mich zum Fenster und reiße die Vorhänge auf. Draußen ist es auch dunkel. Viel zu früh!
Müde.
Ich schlurfe ins Bad, wasche mein Gesicht. Eisiges Wasser! Vor Kälte schüttelt es mich.
Immer noch müde.
In die Küche, Kaffee kochen. Während ich warte, kann ich sitzen. Mein Kopf fällt auf die Tischplatte. Ich halte ihn mit einer Hand oben.
Der Kaffee ist heiß! Glühender Schmerz auf der Zunge. Auch die Verbrennung macht mich nicht wacher.
Ein Blick auf die Uhr. Ich hab getrödelt, muss mich beeilen.
Zurück ins Bad, Zähne putzen.
Schnell ins Schlafzimmer und anziehen. Aber was? Meine Klamotten sind hässlich. Das Bett sieht so kuschlig aus.
Müde.
Nein, anziehen! Greif irgendwas. Grüne Bluse, roter Rock, passt schon. Hab ich Unterwäsche an?
Schminken. Bloß kein Mascara. Die Augen tränen vor Müdigkeit.
Ich gähne, der Lippenstift verschmiert.
Noch einen Kaffee. Ich sollte was essen. Aber so früh bin ich noch nicht hungrig.
Müde.
Ich könnte wenigstens etwas mitnehmen. Ein belegtes Brot vielleicht. Aber dazu müsste ich aufstehen. Kaffee kann man im Sitzen trinken.
Die Uhr sagt mir, dass ich losmuss. Kaufe ich eben Unterwegs was.
Straße. Hab die Schuhe verkehrt herum an. Sie drücken.
Die Leute gucken komisch. Hab vergessen, mich zu kämmen. Egal.
Müde.
Ich steige in den Bus. Es ist der Falsche. Steige wieder aus. Der nächste ist der Richtige.
Am Bahnhof in den Zug. Es ist voll. Ich will sitzen, ich will schlafen. Im Stehen schlafen? Geht das?
So müde.
Die Augen fallen zu. Ich döse. Denke an mein Bett. An den Kaffee. Hmm, Kaffee. Hätte ich doch noch einen.
Ruckartig schlage ich die Augen auf. Wo bin ich? Panische Blicke. Die Bahn ist erst eine Station gefahren. Mach die Augen wieder zu.
Jetzt geht die Sonne auf. Sie scheint direkt in mein Gesicht und blendet. Ich kneife die Augen fester zusammen.
Dann knurrt mein Magen. Ruhe! Weiterschlafen.
Müde.
Die nächste Station. Menschen drängen nach draußen. Sitzplätze werden frei. Dann sind sie wieder besetzt. Ich bleibe stehen. Döse vor mich hin.
Meine Hand rutscht ab. Ich schrecke hoch. Da steht ein Mann und guckt in meine Richtung. Er lächelt mir zu.
Ist der echt? Blinzelnd orientiere ich mich.
Müde.
Er sieht immer noch zu mir. Schüchtern erwidere ich das Lächeln.
Scheiße, warum muss ich heute so schlimm aussehen? Wäre ich doch früher aufgestanden, hätte mich gekämmt und was Vernünftiges angezogen.
Er ist verdammt süß!
Und ich bin so müde.
Wir steigen beide aus. Dieselbe Station! Aber es ist so voll. Ich verliere ihn im Getümmel.
Enttäuschung.
Auf dem nächsten Bahnsteig lehne ich mich an eine Wand. Frustrierte Tritte in die Luft, den Blick starr auf den Boden gerichtet.
Ein Kaffeebecher taucht auf.
Ich schaue hoch: ein bekanntes Lächeln.
Ich werde rot.
Er stellt sich vor, ich mich auch.
Der Kaffee ist heiß.
Ich bin nicht mehr müde.
© 2021 Lilli Schwarz | Alle Rechte vorbehalten
Cover von Lukas Rychvalsky auf Pexels | bearbeitet von Lilli Schwarz
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