Hinter dem Zaun
Ich kritzele stümperhafte Comics auf meine Hausaufgaben, während ich überlege, was ich auf Sunnys letzte Mail antworten soll. Bisher hab ich: Liebe Sonja. Es läuft also richtig scheiße.
Sie hat wie immer von der hippen Stadt, den neuen Freunden und der coolen Schule geschrieben. Kunstbetont, also genau das Richtige für eine Malerin. Dank der Ausbildung dort, könnte sie sogar ein Stipendium für eine renommierte Kunsthochschule bekommen. Im Ausland befürchte ich.
Mit einem Stöhnen hebe ich den Kopf und sehe aus dem Fenster über meinem Schreibtisch. Selbst von hier aus, dem ersten Stock, kann ich nicht über das Ungetüm von Hecke, das die neuen Nachbarn gepflanzt haben, spicken. Sie wirft in der Nachmittagssonne einen langen Schatten auf unseren Garten. Als ob es bei dem bewölkten Wetter noch nicht düster genug ist.
Ich finde es komisch, dass jemand, der in so eine spießige Kleinstadt zieht, so viel Wert auf seine Privatsphäre legt. Normalerweise sind die Menschen hier sehr kommunikativ. Aber von den neuen Nachbarn haben wir seit ihrem Einzug nichts mehr gehört oder gesehen. Nur als sie angekommen sind, konnte ich einen Blick auf die beiden werfen.
Ein kinderloses Pärchen. Er sieht mit seinem Vollbart und dem Dutt aus, wie die Hipster aus Sunnys Beschreibungen der Großstadt. Ich glaube, er hofft, dadurch jünger zu wirken, als er ist. Seine Freundin (oder Frau, keine Ahnung) passt irgendwie nicht zu ihm. Sie hat lange, blondierte Haare und wirkt wie eine Teilnehmerin bei Shopping Queen. Sie hat bei den beiden eindeutig die Hosen an. Und ihr stehen ehrlich gesagt die Skinny Jeans auch wesentlich besser, als ihm.
Ich blähe meine Wangen auf und lasse die Luft mit einem Schnaufen entweichen, als ich mich wieder dem weißen Bildschirm meines Laptops widme.
Ein Tastendruck befreit mich von den beiden Worten, die mich von dort so hämisch angrinsen und ich ersetze sie durch: Hey Sunny, ich vermisse dich. Sofort lösche ich alles wieder.
Ich greife zu meinem Stift und kritzele weiter an meiner Skizze eines verrottenden Baumes herum. Er ist trist und grau und ein totes Eichhörnchen liegt zu seinen Füßen, als hätte er es mit seinen Wurzeln erdrosselt.
Sunny malt nie so düstere Sachen. Aber ich hab auch lange keines ihrer Bilder mehr gesehen. Anfangs hat sie mir immer Fotos davon geschickt. Das macht sie schon eine Weile nicht mehr, aber ich will sie nicht darum bitten, da käme ich mir so bedürftig vor.
Ein Luftzug fegt über meinen Schreibtisch und die Papiere vor mir wirbeln raschelnd durcheinander. Ein paar nutzen die Chance zur Flucht und segeln davon.
„Scheiß Wetter.“, beschwere ich mich, als ich aufstehe, um das Fenster zu schließen.
Ich will gerade den Riegeln herumdrehen, da sehe ich ein lebendiges Eichhörnchen auf der Wiese sitzen.
Nichts Ungewöhnliches eigentlich, in unserem Garten stehen einige Nussbäume und meine Mutter hat überall kleine Behälter mit Vogelfutter aufgehängt. Aber das Tier guckt zu mir hoch und sieht mir direkt in die Augen. Dabei hält es eine Walnuss umklammert, als könnte ich sie ihm nur mit der Macht meines Willens aus den Krallen stehlen.
Für einen Moment verharren wir so, als wollten wir die Gedanken des Anderen lesen, dann huscht es davon, in die Blumenbeete.
Ich schüttle den Kopf und schließe endlich das Fenster. So ein Blödsinn, denke ich, als ob ein Eichhörnchen dich beobachten würde. Das hat sicher Besseres zu tun.
Das hab ich allerdings nicht, deswegen sehe ich dem Pelztierchen hinterher.
Es flitzt durch die Blumen und auf einen der Bäume am Zaun zu. Ich bin etwas überrascht, als es nicht den Stamm hinaufklettert, sondern daran vorbei springt und nah an den perlweißen Latten (sie sind frisch gestrichen, mein Vater hat mich dazu verdonnert) entlang wetzt.
Meine Augen folgen dem rotbraunen Schatten, bis er zu dem einen Brett kommt, das eher gräulich, als weiß ist.
Es ist das lose Brett, durch das Sunny sich immer gequetscht hat, wenn sie mich besuchen wollte. Für sie war es nicht infrage gekommen über die Straße zu gehen, wie ein normaler Mensch.
Das Tier zwängt sich durch die Lücke. Zuletzt verschwindet sein buschiger Schwanz auf der anderen Seite des Zauns.
Und dann weiß ich plötzlich, warum mir das Eichhörnchen so komisch vorkam: Seine Schwanzspitze hatte eine sonderbare Farbe. Und auch die Pfoten und der Bauch sind bläulich Grün gewesen, als ob es durch ein paar offene Farbtöpfe gelaufen ist.
Wenn ich nicht vorher schon neugierig war, was die Nachbarn dort drüben trieben, bin ich es spätestens jetzt.
Die Hecke sieht zwar massiv aus, aber vielleicht könnte ich durch das Loch, das das Eichhörnchen benutzt hatte, ja zumindest einen Blick erhaschen.
Ich trete auf den Flur und laufe auf Zehenspitzen die Treppe herunter.
Meine Mutter ist am Kochen, wie mir das Geklapper und Geklirre von Töpfen verrät. Außerdem riecht es hier unten schon nach Knoblauch und Zwiebeln, die in der Pfanne zischen.
Ich schleiche durch die Tür ins Wohnzimmer und linse um die Ecke in die offene Küche. Ma steht an der Kochinsel, den Rücken in meine Richtung und schnippelt Gemüse oder sonst was.
Also ergreife ich die Chance und tipple auf leisen Sohlen zur Gartentür.
„Hast du die Hausaufgaben fertig?“
Ich bleibe stehen und lasse die Schultern hängen. „Fast.“
Die Frau hat das Gehör einer Katze.
„Fast ist nicht fertig.“, sagt sie, ohne sich umzudrehen.
„Ach Ma, bitte, ich brauch ne kurze Pause und etwas frische Luft. Mein Kopf platzt gleich.“, schwindle ich.
Nun dreht sie sich doch um, das Messer in der Hand, als wolle sie es mir drohend entgegenhalten. Ihre Lippen sind aufeinandergepresst und die Augen müde.
„Wir haben darüber gesprochen, Jonas.“
„Ich schwöre, ich mach sie vor dem Essen fertig. Nur fünf Minuten.“
Sie schüttelt den Kopf und wendet sich wieder den Kartoffeln zu. „Na schön, aber du zeigst sie mir.“
Ich nicke, auch wenn ich weiß, dass sie es nicht mehr sehen kann. Kurz folge ich ihrem Blick zu dem Einser-Aufsatz am Kühlschrank, der dort inzwischen seit fast einem Jahr hängt. Meine aktuellen Noten sind nichts, worauf man stolz sein kann.
Dann laufe ich zur Tür, schiebe sie auf und schlüpfe durch den Spalt, bevor Ma es sich wieder anders überlegen kann.
Zielstrebig gehe ich auf das lose Brett zu und hocke mich davor. Ehe ich es zur Seite schiebe, sehe ich mich noch einmal prüfend nach dem Haus um, um mich zu versichern, dass niemand mich beim Spionieren beobachtet.
Ich spähe durch den Schlitz und blinzle ungläubig. Dann wische ich mir über die Augen und gucke noch einmal hin.
Hinter dem Zaun gibt es kein Loch in der Hecke, aber es gibt auch keine Hecke.
Da ist ein weites Feld (viel weiter, als das Grundstück auf der anderen Seite ist) mit Blumen, Sträuchern und Bäumen in der Ferne, die mit den buntesten Früchten behängt sind. Aber die Farben sind komische. Das Gras ist bläulich, mit einer Spur von dunklem Grün, wie ein See voller Tang. Die Blumen sind grellgrün, die Büsche purpur und flieder mit elfenbeinfarbenen Blüten daran. Die Bäume haben weiße Stämme, wie Birken und feurig gelbes Laub, als wäre es Herbst. Selbst der Himmel ist bunt. Er ist rosa, violett und rot, wie bei Sonnenuntergang.
Ich drehe mich um und gucke in den Himmel, wo die Sonne hinter grauen Wolken versteckt ist. Es ist später Nachmittag, aber noch viel zu früh für den Sonnenuntergang.
Auch sonst sieht der Garten völlig normal aus. Trist, aber normal.
Ich betrachte unser Haus mit seiner abgeblätterten, einst leuchtenden orangen Wandfarbe und die Blumen, die gegen alles hinter dem Zaun blass wirken.
Mein Blick geht wieder durch die Lücke.
Erst jetzt fällt mir auf, dass die Farben dort nicht nur kräftiger sind, sondern sie auch im Wind zu verwischen scheinen.
Kurzentschlossen, quetsche ich mich auf die andere Seite. Es ist viel schwerer, als es bei Sunny ausgesehen hat. Aber sie ist ja auch um einiges schmaler als ich.
Ich richte mich auf und drehe mich um. Dort steht ein Stück Zaun mit einem losen Brett mitten auf einer weiten Wiese. Mein Garten und mein Haus, sind verschwunden.
Fast unbewusst, aber pausenlos schüttle ich den Kopf, während ich mich weiter umsehe und nachdenklich auf die Bäume, die in einiger Entfernung auf einem kleinen Hügel wachsen, zugehe.
Eine Brise spielt mir um die Nase und trägt den Duft von Zitronen und Regen heran. Aber ich kann den Wind nicht nur auf der Haut kitzeln spüren, ich sehe ihn. Helle Wellen ziehen sich vor meinen Augen über die Landschaft. Das Gras und die Sträucher wiegen sich darin. Ein Schmetterling, der viel größer und bunter ist, als jeder, den ich zuvor gesehen habe, scheint auf einer davon zu surfen.
Der Ort, so surreal er ist, kommt mir bekannt vor.
Als ich den Blick wieder hebe, entdecke ich neben einem der Bäume, auf die ich zusteuere, einen Schatten, der gerade noch nicht da war. Ich kneife die Augen zusammen und versuche die Silhouette, die gerade eine himmelblaue Frucht pflückt, zu erkennen.
Mir rutscht das Herz in die Hose, als sie auf mich zuläuft und mir klar wird, wer es ist.
„Sunny?“ Meine Stimme ist heiser.
Ein Grinsen breitet sich in dem bekannten Gesicht aus.
„Na endlich, dachte schon, du kommst nie.“
Ich bin stehen geblieben und sie stapft auf mich zu. Dann drückt sie mir eine der Früchte in die Hand.
Ich merke, wie mein Mund sich öffnet, aber ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. „Was…wo…wie?“, stammle ich.
„Ach komm, du kennst den Ort.“
Ich gucke auf die Frucht in meiner Hand. Sie sieht aus, wie ein Pfirsich, nur eben blau. „Sommerbrise…dein Bild…“
„Bingo.“
Wieder schüttle ich den Kopf. „Ich verstehe es nicht. Träume ich?“
Sunny knufft mir in den Arm. „Blödsinn. Sehe ich aus, wie en Traum?“
Ja, denke ich und bin froh, dass ich es nicht ausgesprochen habe.
„Du bist durch den Zaun gekrabbelt oder nicht?“
Ich nicke.
„Da hast du´s.“
„Da hab ich was?“
„Ich hab ein Duplikat von Sommerbrise an den Zaun gemalt und es dann überstrichen, damit niemand es beschädigt. Ich wusste, du würdest deine Eltern das Brett nicht austauschen lassen.“
Ich verstehe immer noch nicht, aber ich spüre, wie sich nun auch mein Gesicht zu einem Lächeln verzieht.
Sunny deutet auf die Frucht in meiner Hand. „Sie schmecken übrigens genauso toll, wie ich’s mir vorgestellt hab.“
Ohne darüber nachzudenken beiße ich hinein und mein Mund zieht sich zusammen. „Das ist ja sauer.“
Sunny streckt mir die Zunge raus. „Macht lustig.“ Sie beißt von ihrer Frucht ab.
Mit verzogenem Gesicht kauen wir und schlucken die Bissen herunter. Ich schüttle mich.
„Hast dich gar nicht verändert.“, sagt sie und lässt sich ins Gras fallen.
„Du schon.“
Sie greift sich in die jetzt kurzen Haare. Sie sehen so eher kraus, als lockig aus. Nur eine Strähne neben dem Ohr ist übrig geblieben und baumelt als geflochtener Zopf bis zu ihrer Schulter herab.
„Das ist der Jedi-Look.“
Ich setze mich neben sie. „Eigentlich erinnerst du mich jetzt noch mehr an Ronja.“
Sie lächelt.
Als wir in der Grundschule Astrid Lindgren gelesen haben, nannte ich sie eine Weile so. Mit ihren runden, braunen Augen, der sonnenbraunen Haut und den Flecken, die man immer in ihrem Gesicht fand (meistens von den Farben, mit denen sie malte), erinnert sie mich an das wilde Mädchen aus dem Wald.
„Dann bis du mein Birk.“ Sie breitet die Arme aus. „Und das hier ist unsere Bärenhöhle.“
„Wenn ich mich recht erinnere, war Birk eher schlank.“ Ich schaue an mir herunter.
„Du meinst wohl abgemagert. Du überlebst wenigstens einen Winter mit wenig essen.“
„Danke.“, gebe ich sarkastisch zurück und sie knufft mich.
„Jetzt sei nicht immer so negativ. Freu dich doch mal. Ich mein, sieh dich um. Ist das nicht großartig.“
Ich schaue nach oben zu dem Baum, unter dem wir sitzen. Einige der Früchte haben pinke Flecken. Sie gehen in das helle Blau über, wie bei einem Apfel das Grün in das Rot.
„Wie genau funktioniert das?“
Sunny zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, konnte ich schon immer. Also in meine Bilder klettern. Und alles darin ist dann so, wie ich es mir vorgestellt habe.“
„Und kann man uns…ich meine sind wir jetzt auf dem Bild?“
„Ne, nicht richtig. Es taucht nur sone Art Schatten auf. Als wäre da ein dunklerer Fleck. Deswegen hab ich auch mitbekommen, dass du hier bist. Hatte wirklich gehofft, das klappt.“
„Warum hast du es mir nicht erzählt?“
„Hallo? Da hätte ich dir doch voll die Überraschung versaut. Und außerdem wollte ich nicht, dass du mich für irre hältst. Wie klingt denn das? ‚Hey, Jojo, magst du nicht mal durch den Zaun zu den Nachbarn krabbeln? Aber keine Angst, du wirst nicht wegen Hausfriedensbruch drangekriegt, du landest nämlich in einem Bild, da treffe ich dich dann. Sagen wir Montag um fünf?‘ Da hättest du doch meine Eltern angerufen und die hätten mich dann in die Klapse gesteckt.“
Bei der Vorstellung lache ich. Aber eigentlich lache ich, weil sie mich Jojo genannt hat. Das macht nur sie. Ma und Pa nennen mich ab und zu mal Jo oder Joy, aber Sunny war das zu langweilig und deswegen erfand sie einen eigenen Spitznamen für mich, den auch nur sie benutzen durfte.
„Hast recht, kling etwas komisch.“
Sie beißt noch einmal von der Frucht ab und verzieht das Gesicht. Ich gebe auf und werfe den Rest in den nächsten Busch.
„Ob da auch ein Baum draus wird?“, frage ich mich laut.
„Glaube nicht, die Zeit steht hier still. Es ist immer Sommer, es ist immer Sonnenuntergang und es weht immer eine Brise.“
Da gucke ich panisch auf die Uhr an meinem Handgelenk. „Aber steht die Zeit auch für uns still? Ich meine, wenn ich jetzt raus gehe, ist dann Zeit vergangen oder nicht?“
„Ja, draußen läuft die Zeit normal weiter.“
„Mist.“, ich springe auf. „Ich muss zurück, sonst wir Ma mich suchen.“ Ich sehe runter zu Sunny und sie grinst wieder über beide Ohren.
„Aber warte dies Mal nicht so lang, bis du wieder herkommst, okay?“
Ich bleibe einen Augenblick stehen und präge mir ihr Gesicht ein. „Versprochen.“ Dann renne ich los.
Als ich vor dem Zaun hocke, sehe ich mich noch einmal um. Ein undeutlicher Schatten winkt mir von dem kleinen Hügel zu.
Ich krabble durch den Zaun zurück in die triste Realität. Aber an meiner Jeans ist ein blaugrüner Farbfleck und in meinem Gesicht ein breites Lächeln.
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