Die Rückansicht einer Frau vor einer weiten Wiese oder einem Feld, sie verschränkt die Arme gegen den kühlen Wind, der ihr Haar zerzaust, sie scheint Fernweh zu haben.
Kurzgeschichte

Wechselbalg


Hinter mir fiel die Tür ins Schloss. Das ganze Haus schien unter der Erschütterung zu beben.

Die beiden standen vor mir.

Sie bemühte sich nicht einmal, ihr Entsetzten zu verbergen. Ihre Arme waren vor der Brust verschränkt, als wolle sie sich daran festhalten. Die Unterlippe hing herab, als hätte sie einem Schlaganfall.

Er war reglos wie eine Statue, die Arme straff an den Seiten und seine dunkelblauen Augen blickten auf mich herab, obwohl ich ihn inzwischen um einige Zentimeter überragte. Wie zwei Ozeane vor dem Sturm lagen sie da, froren die Zeit ein und schluckten jedes Geräusch, außer dem Hämmern meines Herzens. Und er selbst wuchs und bäumte sich vor mir auf wie eine Welle, nur um in dem Moment zu verharren, bevor sie über mich hereinbrach.

Meine Knie waren kurz davor im Angesicht der Wassermaßen nachzugeben. Aber zur Flucht war es zu spät und wenn ich jetzt Schwäche zeigte, würde die Woge brechen und mich gnadenlos mit aufs offene Meer ziehen.

Warum hatte ich es nochmal für eine gute Idee gehalten sie mit meinem Aufzug so zu überfalle?

Die blauen Haare allein hätten mit Sicherheit schon diese Wirkung gehabt. Aber die Netzstrumpfhose unter den zerrissenen Jeans-Shorts und das viel zu großen Bandshirt von „Arschtritt in die Fresse“ trieben es womöglich doch etwas zu weit.

„Ich wusste, es war keine gute Idee, dich nach Berlin gehen zu lassen.“, sagte meine Mutter, als sie die Kontrolle über ihren Unterkiefer zurückerlange.

„Freut mich auch, euch zu sehen.“, gab ich sarkastisch zurück.

Schweigen. Ich konnte deutlich erkennen, wie mein Vater ein Kopfschütteln unterdrückte. Es hätte seine Gefühle im Moment wahrscheinlich am besten ausgedrückt.

„Wollt ihr hören, was in den letzten drei Monaten passiert ist und warum ich so aussehe oder wollte ihr mich lieber weiter anstarren, wie ein Zirkustier?“

Innerlich verfluchte ich meine sarkastische Art. Dieses Auftreten würde meinen Standpunkt in dem anstehenden Gespräch nicht gerade stärken. Vielleicht hatte meine Mutter recht. Früher hätte ich mir so etwas sicherlich nicht erlaubt.

Jetzt hielt mein Vater es doch nicht mehr aus und schüttelte langsam den Kopf. Eine schwere Last schien in diesem Moment von ihm abzufallen, als würde sich ein wochenlanger Krampf lösen.

„Haben die Nachbarn dich reinkommen sehen?“ Meine Mutter eilte ans Fenster.

Ich biss mir auf die Zunge, um mir den nächsten scharfen Kommentar verkneifen zu können.

„Sie sind wohl nicht da, ihr Auto ist weg.“ Sie ließ die Vorhänge wieder fallen. „Du hättest ja wenigstens eine Mütze aufsetzten können.“

Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein Schnauben entfuhr.

„Sei nicht so respektlos, junge Dame.“, mischte sich mein Vater ein und seine Worte ließen den Raum erzittern, wie die ersten Erschütterungen eines brechenden Tsunami.

Egal wie oft ich schluckte, ich bekam den dicken Kloß im Hals nicht herunter.

„Vorschlag.“, brachte ich dann doch heraus und zu meiner Überraschung zitterte meine Stimme gar nicht so sehr. „Ich gehe in mein Zimmer, ziehe mich um, wir regen uns alle ab und in einer Stunde treffen wir uns im Wohnzimmer. Deal?“

Der Kopf meiner Mutter drehte sich, wie mein eigener, meinem Vater entgegen.

Die Ozeane schienen nun alles zu erfüllen und ich war eine Schiffbrüchige auf einem kleinen Floß ohne Land in Sicht. Die Sonne briet mich auf der offenen See. Mir war unerträglich heiß.

Dann, endlich, nickte mein Vater knapp.

Ich zwängte mich an ihm vorbei, nachdem ich mir die Schuhe ausgezogen und ordentlich vor die Garderobe gestellt hatte, und eilte die Treppe nach oben, ehe er es sich anders überlegen konnte.

Mit einem Seufzen ließ ich mich auf die gelb-geblümte Bettwäsche fallen. Mein Körper war so schwer, als wäre ich Kilometer weit geschwommen.

Über meinem Kopf wuchs die Schräge des Daches hinauf zum Giebel. Durch das Dachfenster fiel die Nachmittagssonne und zeichnete ein helles Viereck auf den Teppich vor das Bett. Dann verdeckte eine Wolke das Licht und für einen Augenblick wurde das Zimmer düster, als wäre ganz plötzlich leichter, aber doch penetranter Nebel aufgezogen.

Mein Blick wanderte zu dem Kleiderschrank rechts von mir. Die weiße Farbe blätterte an einigen Stellen ab und darunter kam das Holz zum Vorschein, ich glaube, es war Eiche. Meine Mutter hatte meinen Vater schon so oft gebeten, ihn abzuschleifen und neu zu streichen. Aber glücklicherweise war sie zu selten in meinem Zimmer, um ihn mit der nötigen Vehemenz daran zu erinnern.

Ruckartig setze ich mich auf und stieß mich an der Dachschräge. Ich rieb mir die Stirn und zog eine Grimasse, eher über meine eigene Dummheit verärgert als wegen des Schmerzes.

Es ging mir einfach nicht in den Kopf, dass ich längst zu groß war, aufrecht unter der Dachschräge zu sitzen.

Ich schob mich vom Bett. Die Türen des Schrankes knarzten, als ich sie öffnete.

Nach und nach schob ich die Klamotten an ihren Bügeln von einer Seite auf die andere und betrachtete sie. Vieles davon hatte ich ewig nicht getragen.

Ich entschied mich für ein rotes Sommerkleid mit schottischen Karos. Auch die Netzstrumpfhose streifte ich ab und griff mir ein Paar dicke Socken, um nicht barfüßig durch das Haus zu laufen. Außerdem wickelte ich mir, einer spontanen Eingebung folgend, einen dünnen Schal, der, glaube ich, einmal als Überwurf für mein Abiball-Kleid gedacht war, um den Kopf. Die langen Enden hingen mir in den Rücken und ein bisschen sah ich damit aus, wie ein Pirat.

Ich blickte zum Wecker auf dem Nachttisch – erst zwanzig Minuten. Dabei bemerkte ich die zerknitterte Bettwäsche und strich sie sorgfältig glatt, ehe ich mich vor das Bett in die Sonne setzte, um meine Gedanken zu sortieren.

Dabei glitten meine Finger unter das Bett und ertasteten die Kiste, in der ich all meine alten Erinnerungsstücke aufbewahrte.

Kurzentschlossen zog ich sie hervor. Darin legen neben Postkarten und stümperhaften Zeichnungen, hauptsächlich Fotos von Freunden aus meiner Schulzeit. Mit keinem von ihnen hatte ich – mal abgesehen von Facebook – noch Kontakt. Nur mit dem Mädchen, das mir meinen ersten Kuss gestohlen hatte, schrieb ich hin und wieder – sie war inzwischen verheiratet und erwartete ein Kind.

Ich seufzte. Konnte es für mich denn nicht auch so einfach sein? War es das überhaupt?

Schon als ich die Zimmertür öffnete, zog mir der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee und Gebackenem in die Nase. Eigentlich hätte ich ahnen können, dass meine Mutter backen würde. Sie backte immer, wenn es etwas zu bereden gab oder wenn sie nichts mit sich anzufangen wusste. Heute traf wohl beides zu.

Ich kam die Treppe herunter und fand meinen Vater am Tisch im Wohnzimmer, hinter einer Zeitung versteckt. Er gab sich große Mühe so zu tun, als würde er lesen, während meine Mutter drei geblümten Gedecke herrichtete. Eines davon direkt neben dem meines Vaters und eines den beiden gegenüber. Der Marmorkuchen war bereits aufgetischt und sogar mit noch feuchter Schokolade überzogen.

Sie bemühte sich, mir mit dem Blick auszuweichen, doch konnte es sich nicht verkneifen wenigstens kurz zu linsen. Ich glaubte sogar, ein Zucken ihrer Mundwinkel zu beobachten, als sie das Tuch auf meinem Kopf bemerkte.

Während ich mich setzte, tat sie jedem ein Stück Kuchen auf den Teller und goss Kaffee in die winzigen Tassen, in die kaum zwei Schluck passten. Bevor sie sich setzte, gab sie noch einen Würfel Zucker in die Tasse meines Vaters.

Als wäre das Geräusch des versinkenden Zuckerstückes ein Startsignal gewesen, faltete dieser die Zeitung zusammen und legte sie neben sich auf den Tisch. Er griff zur Gabel und begann den Kuchen in seinen Mund zu schaufeln. Dabei sah er weder meine Mutter noch mich an, als würden wir überhaupt nicht existieren.

Um diese Illusion nicht zu gefährden, schwiegen wir ergeben.

Meine Mutter umschloss ihre Tasse mit beiden Händen und hob sie vor die Brust. Ihr Augen bohrten sich in das Kuchenstück auf ihrem Teller, als könne sie es so verspeisen, ohne sich zu rühren.

Ich legte die Hände unter dem Tisch in den Schoß und fummelte an meinen Ringen herum. Mein Blick senkte sich auf die Zeitung. Das Kreuzworträtsel lag oben und eines der Kästchen viel mir ins Auge: von Dämonen ausgetauschtes Kind. Wie passend.

Das war es wahrscheinlich, für was meine Eltern mich im Moment halten mussten. Und ich konnte es ihnen nicht mal verübeln. Ich fühlte mich ja selbst so.

Mein Vater kratzte die letzten Krümel auf seinem Teller zusammen. Dann griff er nach der Kaffeetasse, ohne die Gabel abzulegen, trank einen Schluck und stellte sie wieder auf der Untertasse ab. Erst jetzt legte er die Gabe auf seinen Teller.

Mir fiel wieder auf, dass er sich nicht zum Geschmack des Kuchens äußerte. Das mochte in der angespannten Situation nicht ungewöhnlich sein, aber ich hatte schon öfter bemerkt, dass er nie etwas zu dem sagte, was meine Mutter auf den Tisch brachte. Er aß immer alles ohne Anstalten auf, aber ich wusste nicht, was er gern aß und was eher nicht.

Er legte die Arme auf den Tisch und faltete die Hände vor seinem Teller, als wollte er vermeiden, dass ihn jemand wegräumte.

„Also, was hast du uns zu sagen?“, eröffnete er das Gespräch.

Auch ich legte die Arme auf den Tisch und achtete darauf, dass die Ellenbogen über die Kante ragten. Dann atmete ich tief durch.

Ich war tausend verschiedene Möglichkeiten durchgegangen, wie ich meinen Eltern am schonendsten beibringen konnte, was ich in den letzten Monaten getrieben hatte. Aber am Ende war es vielleicht am besten, es einfach hinter mich zu bringen: „Ich habe in Berlin mit einigen Kids auf der Straße gelebt.“

Die Augen meiner Mutter weiteten sich, während mein Vater keine Miene verzog und mich stattdessen mit den zwei Ozeanen gefangen nahm.

„Aber du hast doch bei einer Freundin geschlafen. Du kennst sie aus dem Studium. Wir haben dich dort angerufen.“

„Anfangs war das auch so geplant. Aber als sich meine Pläne geändert haben, bin ich bei dieser Geschichte geblieben, damit ihr euch keine Sorgen macht. Sie war eingeweiht und hat mich übers Handy kontaktiert, wenn ihr angerufen habt, dann bin ich zu ihr gegangen und habe zurückrufen.“

Meine Mutter blinzelte mehrmals. „Du hast ein Handy?“

Ich nickte. „Es ist unmöglich, heutzutage ohne eines auszukommen. Besonders im Studium. Man organisiert Gruppenarbeiten nur noch über Messenger. Selbst einige Professoren nutzen sie. Also hab ich mir eines gekauft.“

„Sind diese Geräte nicht sehr teuer? Kannst du dir das leisten?“

Ich widerstand dem Drang, mir die Schläfen zu massieren. „Ja, sind sie. Aber darum geht es jetzt nicht. Ihr wisst, dass ich nach Berlin gefahren bin, um für meine Bachelorarbeit zu recherchieren.“

Nun nickte meine Mutter. „Du wolltest über Obdachlose schreiben. Das Thema fand ich sowieso nicht gut.“

„Lass mich doch bitte ausreden. Es ging nicht nur um Obdachlosigkeit, sondern insbesondere um solche Menschen, die aus der Gesellschaft ausgestiegen sind und deswegen freiwillig auf der Straße leben. Mir ist irgendwann aber klar geworden, dass es nicht reichen würde nur mit diesen Menschen zu reden, also habe ich beschlossen, ein Selbstexperiment zu machen.“

Meine Mutter schüttelte vehement den Kopf. „Wenn eure Professoren so etwas von euch verlangen, sollte dein Vater mit der Schulleitung sprechen. Das ist ja eine Zumutung.“

„Mama, bitte. Ich habe das beschlossen. Ich wollte das machen. Niemand hat mich dazu gezwungen.“

Jetzt blinzelte sie wieder.

Als mein Vater sich in seinem Stuhl zurücklehnte, drehten wir uns zu ihm. Er verschränkte die Arme vor der Brust und gab mir dann mit einem Nicken zu verstehen, dass ich fortfahren sollte.

„Es war ein Experiment.“, sprach ich mit einem kurzen Schlucken weiter. „Dieser Aufzug war eine Art Kostüm. Ich wollte die Studie so echt wie möglich erleben. Die Haare sind nur getönt, das ist in ein paar Wochen wieder rausgewaschen und mit den Klamotten wollte ich euch einfach schockieren.“

„Na das ist dir gelungen.“

„Ihr solltet mir zuhören. Ich wollte, dass ihr versteht, wie wichtig mir das ist.“

„Hast du auch Drogen genommen? Diese Straßenkinder nehmen doch alle Drogen.“

Jetzt fuhr ich mir doch mit der Hand an die Stirn und rieb sie.

„Erwin, sag doch auch mal was. Unsere Tochter nimmt Drogen!“

Mein Vater räusperte sich und für einen Moment wurde es still.

„Hast du Drogen genommen?“ Die Ozeane schwappten durch meine Poren in die Brust und das salzige Wasser umspülte mein Herz.

Ich biss mir auf die Unterlippe, ehe ich antwortete: „Ja, ich habe ein-, zweimal an einem Joint gezogen.“

„Ich wusste es!“ Meine Mutter knallte die Tasse auf den Tisch und etwas Kaffee schwappte auf die weiße Tischdecke. Hektisch tupfte sie mit ihrer Serviette den Fleck trocken, ohne dabei den Griff um ihre Tasse zu lockern. „Du gehst in eine Klinik und machst einen Entzug!“

„Oh bitte, hör auf mit dem Theater. Es war nur etwas Marihuana. Du trinkst jeden Abend zwei oder drei Gläser Wein und dafür verurteile ich dich auch nicht.“

Ihr blieb der Mund offen stehen.

Mein Vater machte eine auffordernde Geste, als ich ihn fragend ansah.

„Ich wollte eben meinen Horizont erweitern. Ich habe so viele interessante Menschen getroffen. Ihr Lebensstil ist auf Dauer nichts für mich, aber ich bin froh, es ausprobiert zu haben. Und ich würde das gern weiterhin machen.“

Ich sah die beiden abwechselnd an. Meine Mutter starrte nur in die Luft vor sich und klammerte sich an ihre Tasse.

„Was genau?“, fragte mein Vater.

„Na, reisen eben. Und darüber schreiben. Es gibt sicher ein paar Online-Magazine, die solche Texte kaufen. Und wenn nicht, kann ich arbeiten. Ich mache einfach alles, was es gibt, sammle Erfahrung, lerne das echte Leben kennen.“

Ich konnte förmlich sehen, welches Bild sich im Kopf meiner Mutter bildete. Sie dachte sicher, ich würde mich in weit entfernten, gefährlichen Ländern an noch gefährlichere Männer verkaufen und unter der Brücke schlafen.

Dabei hatte ich Letzteres schon gemacht und kein Bedürfnis, diese Erfahrung zu wiederholen.

„Wohin willst du denn? Das echte Leben ist hier! Du suchst dir einen Job, einen Mann und ein hübsches Haus, in dem man Kinder großziehen kann.“

Ich biss mir auf die Zunge.

Mir brannten zu viele gemeine Worte auf den Lippen und ich war kurz davor meiner Mutter ins Gesicht zu schreien, dass ich nicht um ihre Erlaubnis gebeten und sie auch nicht nötig hatte. Schließlich war ich erwachsen und informierte sie hier lediglich über meine Pläne.

Der Stuhl meines Vaters knarzte, als er sich wieder nach vorn lehnte. Er faltete die Hände vor dem Gesicht, als wolle er beten. „Du willst also dieses…na, wie heißt das noch? Da gibt es doch so einen englischen Begriff für.“

„Work and Travel.“, half ich ihm.

„Genau. Das willst du also machen?“

Ich nickte.

„Was ist mit deinem Bafög? Das musst du zurückzahlen. Wirst du dafür genug Geld verdienen? Wir können dich nicht unterstützen, wenn du Geld brauchst.“

Zu meiner Überraschung war die Frage weniger bohrend und negativ, als erwartet.

„Dafür habe ich noch Zeit. Außerdem habe ich während des Studiums auch gearbeitet und konnte ein bisschen was zur Seite legen. Das werde ich weiterhin machen. Und mit der Arbeitserfahrung werde ich sicher bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Ganz zu schweigen von meinen Sprachkenntnissen, die ich so noch verbessern kann. Vielleicht lerne ich sogar noch eine vierte Sprache.“

„Und wie lange willst du das machen?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Mal sehen, so lange, wie es Spaß macht. Vielleicht habe ich ja auch schon nach zwei Wochen die Nase voll und komme zurück. Aber ich will es eben ausprobieren. Ich muss das einfach machen.“

Mein Vater trank seinen Kaffee aus. Dann erhob er sich ohne ein weiteres Wort und lief die Treppe nach oben in sein Arbeitszimmer.

Erst wollte ich es vermeiden, meine Mutter anzusehen, aber ich spürte ihren Blick auf mir.

„Was erzählen wir denn der Familie, wenn du so lange wegbleibst?“, fragte sie. Waren das Tränen, die da in ihren Augen leuchteten? „Sie werden doch erwarten, dass du zumindest zu den Feiertagen hier bist.“

Ich öffnete den Mund und wartete vergeblich darauf, dass Worte daraus hervorkrochen. Also griff ich nach den Händen meiner Mutter, die immer noch um die Tasse lagen, in der der Kaffee inzwischen kalt geworden war. „Ich werde dich auch vermissen.“

Sie sah mich mit einem Blick an, den ich nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Und dann lächelte sie. Nur für einen Moment, aber sie lächelte.

Mein Vater kam zurück und legte ein Buch neben meinen Teller. „Vielleicht interessiert dich das. Du kannst es mitnehmen, wenn du möchtest, aber ich will es zurückhaben.“ Er lief hinüber zu seinem Stuhl und ehe er sich setzte, beugte er sich herüber, um ein weiteres Stück Kuchen abzuschneiden.

Meine Mutter ließ ihre Tasse los und begann in ihrem Stück herumzustochern.

„Und du wirst uns schreiben. Briefe, keine Postkarten.“, fügte er hinzu, bevor er einen Bissen in seinem Mund platzierte.

Ich strich über dem roten Ledereinband und schlug das Buch auf. Die Seiten waren eng beschrieben und mit Fotos gespickt. Auf einigen war eine jüngere Version meines Vaters zu sehen, aber die meisten zeigten Sehenswürdigkeiten aus verschiedenen Ländern. Es gab auch Zeichnungen und hin und wieder waren Fundstücke, wie Federn, Muscheln oder Steine im Klebeband befestigt worden.

Wie gebannt blätterte ich in dem Reisetagebuch und versuchte, die richtigen Worte zu finden.

„Der Kuchen ist wirklich köstlich.“, sagte mein Vater.


© 2021 Lilli Schwarz | Alle Rechte vorbehalten

Cover von Dziana Hasanbekava auf Pexels | bearbeitet von Lilli Schwarz

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Bilder von Karolina Grabowska und Karolina Grabowska auf Pexels | bearbeitet von Lilli Schwarz

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