Arbeitsprozess einer Schriftstellerin
Das Jahr ist bisher leider nicht weniger energiezehrend als das letzte. Auch beim Schreiben schwanke ich gerade zwischen Begeisterung und Demotivation. Selbst dieser Tagebucheintrag ging mir nicht so leicht von der Hand, wie die Vorherigen (weswegen er mit Verspätung veröffentlicht wurde).
Ursprünglich wollte ich dieses Mal von meinen zwei Seiten, der Schriftstellerin und der Lektorin erzählen, und wie sie sich momentan wieder häufiger behindern, statt sich zu unterstützten. Aber meine Arbeit und Gedankenwelt wird zurzeit von meinem Erstlingsroman dominiert, daher habe ich mich entschieden dir einen tieferen Einblick in meinen Arbeitsprozess zu geben.
9 Schritte zur fertigen Geschichte
Auch, wenn sich mein erster Roman noch in der Überarbeitung befindet, habe ich doch schon viele Manuskripte so weiter fertiggestellt, dass sie (aus meiner Sicht) für die Veröffentlichung bereit sind.
Dabei bin ich einer gewissen Strategie gefolgt, obwohl ich sie bisher nicht bewusst aufgeschrieben hatte. Ich habe sie mir aus Ratschlägen, Büchern und eigenen Erfahrung zusammengestellt. Hier also mein persönlicher 9-Schritte-Plan zur Erarbeitung einer fertigen Geschichte:
Schritt 1: Inspiration
Die erste Idee ist der Funke, der das Feuer der Euphorie anfacht.
Bei mir ist das meist nur eine Szene, die mir in den absurdesten Situationen in den Sinn kommt oder ich träume sie und Kurzgeschichten beginne ich oft mit einer Assoziationsübung, also mit einem zufällig generierten Wort.
Schritt 2: Erstentwurf schreiben
Diese Phase ist wild und belebend, kann aber auch Nebenwirkungen, wie Schlafmangel und Appetitlosigkeit haben. Sie ist die erste Verliebtheit, aufregend und unberechenbar.
Das Gehirn wird abgeschaltet, dem Herz wird widerstandslos gehorcht. Rechtschreibung, Grammatik, Logik und der ganze andere Schmarrn werden ignoriert. Keine Idee, keine Szene und sei sie noch so absurd, wird hinterfragt.
Den Erstentwurf zu schreiben ist wie Autofahren im Dunkeln. Man sieht immer nur ein kleines Stück der Straße, die vor einem liegt und hangelt sich von Szene zu Szene, ohne wirklich zu wissen, wo es hingeht. Denn auch wenn man eine grobe Idee hat, wo man hinwill, kann die Geschichte sich schnell selbstständig machen und eine Abzweigung nehmen, mit der man nicht gerechnet hat.
Schritt 3: Pause
Nachdem das erste Feuer gewütet hat, muss es Zeit haben auszubrennen. Deswegen darf nach Beendigung das Manuskript zunächst nicht mehr angefasst werden.
Und da das Projekt das eigene Leben so sehr dominiert hat, ist die Distanz eine echte Erleichterung. Man kann wieder durchatmen, das Herz kann sich erholen von den ständigen Adrenalin- und Dopaminschüben.
Zudem wird dieser Abstand am Ende die Beziehung nur vertiefen, um bei der Liebes-Metapher zu bleiben.
Wie lang diese Phase dauert, ist sehr individuell. Nicht nur die eigene Persönlichkeit, sondern auch das Projekt selbst beeinflussen die Geschwindigkeit der Abkühlung.
Dabei kommt es nicht zwangsläufig nur auf den Umfang des Textes an. Natürlich wütet bei Kurzgeschichten das Feuer weniger lang und ist daher in der Regel schneller wieder gelöscht. Doch auch sie können intensiv sein und heftig nachglühen.
Der ausschlaggebende Faktor aber, ist der Anteil an Herzblut in der Tinte. Umso wichtiger einem ein Projekt ist, umso tiefer es einen berührt, umso länger dauert es, die nötige Distanz aufzubauen.
Für mich schwankt dieser Zeitraum gerade bei Kurzgeschichten stark. Bei manchen reichen wenige Tage, einige liegen fast ebenso lange herum, wie mein Roman.
Diesen habe ich nach dem Erstentwurf drei Monate keines Blickes gewürdigt, beim zweiten Anlauf hat schon ein halber ausgereicht.
Mir wurde auch schon von Projekten berichtet, die jahrelang in einer Schublade auf ihren Auftritt warten.
Schritt 4: Manuskript lesen
…im Idealfall an einem Stück.
Dies ist nicht nur eine anstrengende, sondern eine recht kritische Aufgabe. Denn es besteht die Gefahr, dass man im Angesicht des vorliegenden Durcheinanders, direkt den Mut verliert.
Um das zu verhindern, ist es ratsam sich nur auf einige Aspekte zu konzentrieren und nicht gleich jede kleine Verfehlung mit einem Rotstift zu markieren.
Erst einmal geht es darum, sich einen Überblick über den Ablauf zu verschaffen, ob die Ereignisse der Geschichte logisch aufeinanderfolgen oder vielleicht einzelne Szenen sich an einer anderen Stelle besser eigenen würden. Außerdem sollte auf die Kontinuität geachtet werden, also ob z.B. eine Figur plötzlich ihr Aussehen ändert.
Diese Dinge dürfen notiert werden, der Text selbst wird aber noch nicht bearbeitet.
Vor allem sollte man dabei nicht zu streng mit sich selbst sein und sich besonders über gelungene Szenen, Beschreibungen und Dialoge freuen.
Es soll eine träumerische Phase sein, geprägt von nostalgischen Erinnerungen.
Schritt 5: Plotten oder so
Nachdem man sich durch das Chaos der kreativen Explosion gearbeitet hat, ist das Gehirn gefragt. Die Unordnung muss beseitigt, der Ablauf und die Handlung klar definiert werden. Die Umgebung wird genauer ausgestaltet und die Charaktere entwickelt.
Es ist die sogenannte Soft-Time, also die Zeit, in der man über eine Geschichte nachdenkt und nicht schreibt.
Ich persönlich habe mir dafür angewöhnt, meine Gedanken ungefiltert aufzunehmen und sie dann noch einmal anzuhören, um gute Ideen herauszuarbeiten.
Es kann frustrierend sein, wenn man das Gefühl hat die Geschichte fügt sich nicht in die Richtigen Bahnen, aber es ist auch unwahrscheinlich kreativ und aufregend. Erst jetzt beeinflusst man die Geschichte wirklich und lässt sich nicht nur von einem Strom der Gefühle mitreisen.
Und nichts ist elektrisierender, als endlich eine passende Idee zu haben, die die Handlung abrundet.
Schritt 6: Aufräumen und Sortieren
Nachdem ersten Blindflug ist man nun gewappnet, weiß, wo die Reise hingehen soll und welcher Weg einzuschlagen ist. Der Text selbst, muss aber noch an diesen Fahrplan angepasst werden.
Man darf dabei jedoch nicht der Versuchung nachgeben und sofort jede Formulierung, die einem nicht gefällt, umschreiben oder Tipp- und Rechtschreibfehler korrigieren. Es wird erst einmal nur alles in die richtige Reihenfolge gebracht und die Charaktere in ihren Rollen gefestigt.
Natürlich kann es dafür nötig sein neue Szenen zu schreiben oder auch ganze Kapitel zu löschen. Deswegen sollte spätestens jetzt, eine neue Datei angelegt werden, damit der Erstentwurf nicht verloren geht und man immer wieder nachprüfen kann, wie die Szenen ursprünglich abgelaufen sind.
Schritt 7: Feinschliff
Nachdem die grobe Form der Geschichte perfektioniert ist, also Handlung und Charaktere endgültig stehen, geht es an die Schönheitskorrekturen.
Diese Szene ist nicht flüssig? Umformulieren!
Diese Beschreibung ist nicht lebendig genug? Mehr Sinne ansprechen!
Dieser Dialog ist steif und unnatürlich? Laut lesen und anpassen!
Dieses Wort wird in jedem dritten Satz benutzt? Synonyme!!!
Passt die Perspektive? Eine andere ausprobieren!
Und so weiter…
Es ist ein wunderbares Gefühl, aus einer Szene noch mehr herauszuholen, die perfekte Formulierung oder ein passendes Synonym zu finden. Aber man sollte auch nicht zu perfektionistisch sein und jeder Regel folgen. Manchmal ist ein schwaches Adjektiv einfach das treffendste und ein „unnötiges“ Füllwort macht den Text flüssiger.
Schritt 8: Korrektur
Zuletzt darf auch die Rechtschreibung kontrolliert werden.
Glaub mir, es ist besser, dass ganz zum Schluss zu machen. Was bringt es schon, einen langen Text am Anfang Korrektur zu lesen, nur um im Anschluss ganze Szenen oder gar Kapitel komplett zu streichen? Das wäre nur unnötige Arbeit.
Schritt 9: Feiern!
Wenn man diesen Punkt erreicht, ohne wahnsinnig zu werden, hat man allen Grund stolz und selbstzufrieden zu sein. Es ist ein gutes Stück Arbeit und erfordert einiges an Durchhaltevermögen und Disziplin.
Deswegen ist dieser Schritt der wichtigste und sollte auch zwischendurch immer wieder zelebriert werden, wenn ein Teilabschnitt geschafft ist.
Von der Theorie zur Praxis
Der Ablauf ist nicht so linear, wie es jetzt vielleicht klingt. Es ist höchst wahrscheinlich nötig Schritt 4 sowie 6 bis 8 mehrfach zu wiederholen (und zur Motivation natürlich auch Schritt 9).
Das könnte dann ungefähr so aussehen: Lesen, Aufräumen, Lesen, Aufräumen, Lesen, Feinschliff, Lesen, Feinschliff, Lesen, Feinschliff, Lesen, Korrektur…Du verstehst schon.
Auch das Einbeziehen freiwilliger Lektoren ist nach Schritt 6, spätestens aber zu Schritt 9 sinnvoll.
Ich lese meine Texte zudem kurz vor Veröffentlichung noch einmal durch und lasse mehrere Rechtschreibprogramme darüber laufen. Aber alle Fehler auszumerzen ist natürlich nicht immer möglich und wenn du beim Schmökern einen findest, darfst du ihn gern behalten.
Bei meinem Erstlingsroman habe ich sogar Schritt 2 zweimal gemacht, also nach dem Plotten (Schritt 5) einen zweiten Entwurf geschrieben (um genau zu sein habe ich in den 13 Jahren, die mich diese Geschichte jetzt begleitet, schon ungefähr fünf Versionen verfasst, doch keine davon habe ich je beendet, daher zählt meine vorletzte für mich als der tatsächliche Erstentwurf). Dabei habe ich natürlich einige Szenen aus dem Erstentwurf übernommen, aber viele bis zur Unkenntlichkeit verändert. Am Ende habe ich mehr als die Hälfte (ich schätzte eher so 70%) komplett neu verfasst, daher denke ich, man kann durchaus von einem zweiten Entwurf sprechen.
Die Geschichte ist eine völlig andere geworden als die, die ich mit sechzehn Jahren angefangen habe. Aber sie gefällt mir mit jedem Mal etwas besser. Ein bisschen ist es, als wäre sie mit mir gemeinsam gereift und gealtert. Deswegen finde ich es wichtig, sie zu beenden, bevor ich mich auf das nächste Projekt stürze.
Es ist die Geschichte, an der ich meine Fähigkeiten ausprobiert und verbessert habe. Mit ihr bin ich zur Schriftstellerin geworden. Und auch der Titel, den ich ihr gegeben habe, passt dazu: Wiedergeburt.
© 2021 Lilli Schwarz | Alle Rechte vorbehalten
Cover von Erdenebayar Bayansan auf Pixabay | bearbeitet von Lilli Schwarz
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